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Die Rechnung ist nicht aufgegangen

von Reinhold Robbe

Am 12. Oktober sitze ich im Plenarsaal des Deutschen Bundestages. Auf der Tagesordnung steht die Debatte über die Verlängerung des Mandats für den ISAF-Einsatz in Afghanistan. Eine erstaunlich sachliche Debatte. Zum Teil sehr persönlich gehalten. Es geht um das Für und Wider. Es geht um die richtigen Strategien. Und es geht vor allem um die Frage, ob bislang genug geleistet wurde.

Ein Entwicklungspolitiker berichtet von den vielen positiven Veränderungen, die seit dem Einsatz deutscher Soldaten am Hindukusch sichtbar geworden sind. FDP-Fraktionschef Guido Westerwelle bekommt viel Beifall für eine emotionsgeladene Rede, die wesentlich geprägt ist von seinem Besuch im afghanischen Norden. Er berichtet von einem Verbrechen, bei dem ein Jugendlicher grausam hingerichtet wurde, weil man bei ihm eine Dollar-Note gefunden hatte.

Die meisten Abgeordneten stimmen Westerwelle zu, indem sie die Notwendigkeit unterstreichen, das ISAF-Mandat zu verlängern. Neben den Befürwortern gibt es aber auch Kritiker in der Bundestagsdebatte. Sie fordern eine sofortige Beendigung des Bundeswehr-Engagements. Vertreter der "Linken" sind der Auffassung, die Hilfsorganisationen könnten ihre Aufbauarbeit sogar besser ohne militärischen Schutz leisten. Die Kritiker können keinen Sinn mehr darin erkennen, wofür unsere Soldatinnen und Soldaten Gesundheit und Leben einsetzen.

Während ich von meinem Platz an der Stirnseite des Plenarsaals aus die Debatte verfolge, muss ich unwillkürlich an eine meiner vielen Begegnungen mit Soldaten im Rahmen meiner Truppenbesuche zurückdenken.

Thomas Möller (Name wurde vom Verfasser geändert) hatte das, was man Soldatenglück nennt. Glück, das er bis zum heutigen Tag nicht recht begreifen kann. Bei meinem letzten Truppenbesuch in Afghanistan sitzt er mir im Feldlager von Mazar-e-Sharif gegenüber. Sein Einheitsführer hatte mich nach dem offiziellen Programm zu einem gemütlichen Treffen im Kameradenkreis eingeladen. Hier lerne ich Thomas Möller kennen. Er erzählt mir, was sich damals zugetragen hat. Damals, im Jahre 2003, hatte ein Selbstmordattentäter vier deutsche Soldaten mit in den Tod gerissen. Sie saßen zusammen mit ihren Kameraden in einem Bus, der sie vom Camp Warehouse in Kabul zum Flughafen bringen sollte. Sechs Monate hatte ihr Einsatz gedauert.

Die Soldaten freuten sich darauf, endlich ihre Familien wiederzusehen. Der Bus fuhr in einem Konvoi. Plötzlich überholte ein Taxi die Kolonne und rammte den Bus. Eine Autobombe detonierte. Viele Tote, zahlreiche Schwerverletzte - ein Bild des Grauens.

Thomas Möller schildert mir den Verlauf der Ereignisse. Er saß im Fahrzeug unmittelbar hinter dem Bus. Er sah die Explosion und reagierte sofort, nachdem er den ersten Schock überstanden hatte. Instinktiv kümmerte er sich um seine schwerverletzten Kameraden.

Obwohl seit dem Anschlag inzwischen einige Jahre vergangen sind, gibt es noch immer keinen Tag, an dem Thomas Möller nicht an das Attentat erinnert wird. Der Anschlag hat bei ihm tiefe Spuren hinterlassen. Ohne seine Frau, seine Familie und ohne den Beistand vieler treusorgender Kameraden hätte er die Folgen des Attentats und die seelischen Belastungen nicht verkraftet.

Afghanistan ist für Thomas Möller in erster Linie mit diesem traurigen Ereignis verbunden. Und dennoch meldete er sich erneut für den Einsatz. Mehr noch - er bat seine Vorgesetzten, mit ihm gemeinsam den Ort des Anschlags zu besuchen. Es kostete ihn Kraft und Selbstüberwindung. Für Thomas Möller schließt sich damit ein Kreis. Er macht mit seinem Besuch am Ort des Attentats vielleicht aber auch deutlich, dass die Rechnung der Taliban nicht aufgegangen ist.