4 |
Lebenskundlicher Unterricht: Bedingungen, Grundlagen und Entwicklungen 50 Jahre ZDv 66/2 - Merkschrift vom November 1959 | Militärseelsorger selbst als Zuhörer
im LKU: Bei der Offizier-Arbeitsgemeinschaft
in Mühlhausen mit
einem afrikanischen Bischof hat
sich Militärpfarrer Ramisch zu den
Soldaten gesetzt. | Vor knapp 50 Jahren, am 5. November 1959, gab das Bundesministerium für Verteidigung (Abteilung Verwaltung und Recht [VR I 4]) die Merkschrift über den Lebenskundlichen Unterricht als Zentrale Dienstvorschrift (ZDv) 66/2 heraus. Drei Jahre zuvor war als ZDv 66/1 die Merkschrift zur Militärseelsorge erlassen worden. Nach den vorläufigen Bestimmungen vom Mai 1957 legte die neue ZDv nun die endgültigen Grundlagen zur Erteilung des Lebenskundlichen Unterrichts (LKU) fest. Sie stellte den Unterricht in den Zusammenhang mit der Gesamt-erziehung der Soldaten. Erteilen sollten ihn die Militärgeistlichen während der Dienstzeit auf den Grundlagen des christlichen Glaubens "in freier und freudiger Mitarbeit des einzelnen" (ZDv 66/2 Abs. 1-4).
Nun nach 50 Jahren wird in Anpassung an die geänderten Verhältnisse in der von einer Verteidigungs- zur Einsatzarmee transformierten Bundeswehr die ZDv 66/2 durch die neue ZDv 10/4 ersetzt (auffallend ist die neue Zuordnung der ZDv über den LKU näher an die ZDv 10/1, die von der Inneren Führung handelt). Sie wird damit nicht nur Spiegel der gewandelten Situation in der Bundeswehr sein, sondern auch der gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen. In dem neuen Entwurf der ZDv zum Lebenskundlichen Unterricht werden z. B. die Grundlagen des christlichen Glaubens nicht mehr explizit erwähnt. Die Teilnahme am Lebenskundlichen Unterricht ist fortan verpflichtend. Als "Lehrende" können neben die Militärgeistlichen bzw. Pastoralreferentinnen und Pastoralreferenten weitere geeignete Lehrkräfte treten.
| Lebenskundlicher Unterricht
zu Beginn der 1960er Jahre | Ein Blick zurück
An einem solchen Wendepunkt liegt es nahe, nochmals einen Blick zurückzuwerfen: Welche Ziele verfolgte der Staat seinerzeit - rund 10 Jahre nach Kriegsende - mit der Einführung des LKU? Wa-rum übertrug der Staat gerade den beiden Kirchen diese Aufgabe?
Als die "Väter der Bundeswehr" ihr Erziehungsideal formulierten, waren sie geprägt durch die Erfahrungen der Preußischen Armee, der Reichswehr und der Wehrmacht. Zugleich orientierten sie sich am Vorbild anderer Nationen - insbesondere die "character guidance" der US-amerikanischen Streitkräfte. Daher ließen sie keinen Zweifel da-rin, in den neuen deutschen Streitkräften ein ähnliches Erziehungsprogramm zu realisieren. Es sollte dazu beitragen, den Soldaten zu einem verantwortlichen "Staatsbürger in Uniform" und nicht zu einem bloßen Befehlsempfänger heranzubilden. Dem Soldaten wurde deshalb innerhalb der Bundeswehr ein Freiraum zur Verfügung gestellt, in dem er sich aussprechen und an jemanden Fragen stellen konnte, der nicht Vorgesetzter, aber intimer Kenner der militärischen Lebenswelt ist. Neben dem staatsbürgerkundlichen Unterricht sollte der LKU dem Soldaten vor allem "Hilfen für sein tägliches Leben geben und damit einen Beitrag zur Förderung der sittlichen, geistigen und seelischen Kräfte leisten, die mehr noch als fachliches Können den Wert des Soldaten bestimmen" (ZDv 66/2 Abs. 1). Der LKU ist folglich kein Religions- oder reiner Ethikunterricht. Er nimmt sich besonders der jungen Menschen "in der Gesamtheit ihrer individuellen und sozialen Lebensvollzüge unter den Bedingungen des militärischen Dienstes" an "als pastoraler Dienst und als kirchliche Mitwirkung bei der Vermittlung und Klärung von Wertfragen und -haltungen in der pluralistischen Gesellschaft" (E. Niermann). Dazu schienen nach den Erfahrungen aus der Zeit des totalitären NS-Regimes mit ihrer weltanschaulichen Schulung durch die Nationalsozialistischen Führungsoffiziere (NSFO) nun in der demokratischen Bundesrepublik die Militärgeistlichen (als pädagogisch ausgebildete Akademiker) am geeignetsten.
Die beiden Kirchen hatten jedoch zunächst große Bedenken, dem Wunsch des Staates nachzukommen, diesen LKU zu erteilen. Sie fürchteten, die Militärgeistlichen könnten von staatlicher Seite instrumentalisiert werden und hätten gegebenenfalls keine Möglichkeit, die Lehre ihrer Kirchen etwa in ethischen Fragen des Friedens und der Verteidigung im Unterricht darzulegen. Diese Bedenken konnten während der Planungsphase zum LKU ausgeräumt werden und die beiden Kirchen übernahmen den Auftrag zur Erteilung des LKU. In der jungen Bundesrepublik Deutschland lag dies nahe, da die beiden christlichen Kirchen - seinerzeit die größte gesellschaftliche Gruppe - zweifellos die allgemein anerkannten gesellschaftlichen Grundwerte des Staates repräsentierten. Man konnte also annehmen, dass die meisten Soldaten mit der Erteilung des LKU durch die Militärgeistlichen einverstanden waren. Mit Rücksicht auf die Nicht-Christen wurde und ist der LKU nicht obligatorisch, sondern als freiwillig institutionalisiert (ZDv 66/2 Abs. 5). Er findet während der Dienstzeit statt.
Der LKU und seine Erteilung durch die Militärgeistlichen entspricht den im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankerten Grundsätzen der Gewissensfreiheit, der freien religiösen Betätigung und der freien, partnerschaftlichen Zusammenarbeit von Staat und Kirche.
| Solche ,Plakate' entstanden während der 1960er Jahre für den Unterricht.
Sie sollten die einzelnen Teilgebiete eines Themas prägnant darstellen. In
Ermangelung von Tafel und guten Zeichnern waren sie Unterrichtshilfen.
Nach dem LKU wurden sie auch in der Kaserne aufgehängt, um den Unterrichtsstoff
immer mal wieder zu erinnern und einzuprägen.
Hier ein Beispiel für die Kontinuität bestimmter Themen: Toleranz, vor allem
religiöse. (Entwurf: Jupp Palm, Köln / Druck: Leopold, Bonn) | LKU im Wandel der Zeit
In den inzwischen 50 Jahren hat der LKU durch das breite Spektrum seiner thematischen Ausrichtung auf die Gesamtheit der individuellen und sozialen Lebensvollzüge - in Anpassung an die jeweilige Zeit - Raum und Möglichkeit geboten, jenseits von den durch Befehl und Gehorsam bestimmten Strukturen Denkanstöße zu geben und darüber ins Gespräch zu kommen.
Der LKU war entworfen und wurde praktiziert für eine Verteidigungsarmee. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands stellten sich der Bundeswehr neue Herausforderungen. Sie vollzog nun den Wandel zu einer Einsatzarmee. Die Umstrukturierungen der Bundeswehr, die Verkürzung der Grundwehrdienstzeit und die mit den internationalen Einsätzen veränderten Aufgaben hatten Folgen für den LKU. Die Unterrichtszeit verringerte sich faktisch. Es hat den Anschein, dass die militärischen Erfordernisse des Alltags breiteren Raum gewonnen hatten. Mit der Reduzierung des militärischen Personals ging auch die Reduzierung des Militärseelsorge-Personals einher. Mit weniger Militärseelsorgerinnen und Militärseelsorgern, von denen viele auch die Soldatinnen und Soldaten in den Einsätzen begleiten, und in immer größer werdenden Seelsorgebezirken wurde auch die Aufrechterhaltung des LKU schwieriger. In den Anfängen der Bundeswehr und ihrer Militärseelsorge rechtfertigte gerade diese zusätzliche, als besonders wichtig erachtete Aufgabe im Erziehungsprogramm der Bundeswehr eine ausreichende personelle Besetzung der Militärseelsorge.
Erst als sich seit Ende der 1990er Jahre die Folgen dieser vernachlässigten Aufmerksamkeit für das Erziehungsprogramm der Bundeswehr bemerkbar machten, wurde deutlich, dass auf eine Beschäftigung mit lebenskundlichen Themen auch bzw. gerade in Zeiten erhöhter militärischer Anforderung nicht verzichtet werden kann.
| Militärdekan Joachim Robrahn
(Glücksburg) während des
Lebenskundlichen Unterrichts,
September 1988 | Ausblick
Nach fünfzig Jahren wird die ZDv über den Lebenskundlichen Unterricht den veränderten Verhältnissen in Gesellschaft und Bundeswehr angepasst. Die christlichen Kirchen bilden nicht mehr die größte gesellschaftliche Gruppe. Dennoch leisten sie nach wie vor "einen Dienst an unserer pluralen Gesellschaft, die für das Zusammenleben und für das Überleben ein Mindestmaß an Übereinstimmung in Grundfragen, in Wertfragen und wohl auch in letzten Fragen braucht. In einer pluralen Gesellschaft können nicht nur die Kirchen diesen Dienst an der Gesellschaft leisten, aber die Kirchen sollen nicht ausgeschlossen sein und dürfen sich nicht entziehen, wo es um Klärung und Vermittlung von Wertvorstellungen geht." Die Kirche "äußert sich nicht im Interesse einer Gruppe. Wer sich im Namen der Kirche zu Fragen äußert, die den Menschen in der Welt von heute aufgegeben sind (unabhängig davon, woran sie glauben oder auf wen sie ihre Hoffnung setzen), wendet sich nicht nur an die Mitglieder der Kirche" - so formulierte es in noch immer gültiger Weise 1978 der damalige Katholische Militärbischof Dr. Franz Hengsbach.
Dr. Monica Sinderhauf
Quellen- und Literaturhinweise
o Archiv des Katholischen Militärbischofs Berlin, Bestand "Akten Werthmann": AKMB, AW III 2 d 4 - IV/A/1.61 (Einführung und Gestaltung des Lebenskundlichen Unterrichts - Verhandlungen 1953-1955).
o Manfred Suermann, Menschen auf ihrem Weg begleiten, in: "Meinen Frieden gebe ich Euch" - Aufgaben und Alltag der Katholischen Militärseelsorge. Festschrift für den Katholischen Militärbischof für die Deutsche Bundeswehr Erzbischof DDr. Johannes Dyba, Bischof von Fulda, hrsg. v. Jürgen Nabbefeld, Katholisches Militärbischofsamt Bonn, Köln 1999, S. 205-216.
o Kirche unter Soldaten 1956-2006 - 50 Jahre Katholische Militärseelsorge in der Deutschen Bundeswehr, hrsg. v. Katholischen Militärbischofsamt Berlin, Heiligenstadt 2006, bes. S. 471-511.
|
|
|