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Versöhnung | Jörg Lüer,
Referent für den
Arbeitsbereich
Frieden der
Deutschen Kommission
Justitia
et Pax | Das lateinische Wort für Versöhnung "reconciliatio" verweist auf die Aufgabe, beschädigte Gemeinschaft wiederherzustellen. Versöhnung ist zuvorderst als ein (Heilungs-)Prozess zu verstehen und erst in zweiter Linie als ein gebotener Idealzustand.
Versöhnungsprozesse erfordern, die Tiefe der zu überwindenden Verletzungen und damit die vorhandenen Unversöhntheiten ernst zu nehmen. Der scheinbar so versöhnliche Ruf nach einem Schlussstrich stellt sich in aller Regel als die Versuchung heraus, der eigentlichen Herausforderung auszuweichen: dem schmerzhaften gesellschaftlichen Prozess des "Sich-ehrlich-Machens".
Versöhnung und Wahrheit
Es gilt, die Wahrheit über die Vergangenheit und die Gegenwart ans Licht zu bringen, sowie transparent zu machen, wie sehr Gewalt und Unrecht der Vergangenheit bis in die Gegenwart hinein- und fortwirken. Der Weg zur "reconciliatio" kennt keine Abkürzungen an den Wahrheiten der jeweiligen Geschichte vorbei.
Es gehört zum Problem der Unversöhntheit, dass die Perspektiven auf die Wahrheit über das Geschehene sehr verschieden und nicht selten widersprüchlich sind. Wichtig ist, der Versuchung zu widerstehen, diese verschiedenen Perspektiven einfach nur relativistisch nebeneinander zu stellen. Die spannungsreiche Aufgabe liegt darin, die Erfahrungen und Anfragen der Opfer angemessen zur Sprache zu bringen, den inneren Bezug der verschiedenen Perspektiven (Täter, Opfer, Zuschauer, Wegschauer) zu einander verstehen zu lernen und dabei die Perspektiven selbst zu verändern. Es kommt sowohl darauf an, über konkrete, persönliche Schuld und Verantwortung zu sprechen, als auch die systemischen und strukturellen Bedingungen von Unrecht und Gewalt offenzulegen. Nur so kommt der reale Horizont der menschlichen Handlungsbedingungen in den Blick.
Versöhnung und Gerechtigkeit
Der gesellschaftliche Prozess des "Sich-ehrlich-Machens" erfordert, dass die Wahrheit über Unrecht und Gewalt nicht folgenlos bleibt. Eine praktische Solidarität mit den Opfern, die sich daran zu orientieren hat, dass deren Würde wiederaufgerichtet und Gerechtigkeit soweit als möglich wiederhergestellt wird, ist daher unverzichtbarer Bestandteil jeder Bemühung um Versöhnung. Dazu gehören Entschädigungs- und Rehabilitierungsmaßnahmen ebenso wie eine differenzierte, an Gerechtigkeit orientierte Auseinandersetzung mit den Tätern. Dies schließt strafrechtliche Maßnahmen ausdrücklich mit ein. Dabei ist es wichtig, den Versuchungen zur Revanche und zur Dämonisierung der Täter zu widerstehen. Die Schaffung von Täter-Sündenböcken zur bewussten oder unbewussten Entlastung von der eigenen Verstrickung behindert Versöhnungsprozesse nicht zuletzt deshalb, weil insbesondere in Fällen von lang anhaltendem systemischem Unrecht eine schlichte Unter-scheidung von Tätern und Opfern außerordentlich schwierig und anspruchsvoll ist. In diesen Auseinandersetzungen erweist sich die persönliche wie gesellschaftliche Fähigkeit, sowohl der Wahrheit Raum zu geben, als auch den Zirkel der Gewalt zu durchbrechen.
Versöhnung braucht Zeit
Versöhnungsprozesse machen es nötig, dem, was geheilt werden kann, Zeit zur Heilung zu geben. Diese Zeit ist aber kein Selbstläufer, sie ist bewusst zu gestalten und zu nutzen. In diesem Zusammenhang kommt einer angemessenen Trauer und Erinnerung an die Toten eine wichtige Funktion zu. In ihr drückt sich das Bewusstsein für das bleibend Unabgegoltene der Geschichte aus. Erst wenn es gelingt, diese Dimension in die persönliche und gesellschaftliche Gegenwart zu integrieren, kann eine verlässliche, wenngleich noch auf lange Sicht fragile Basis für die Versöhnung mit den anderen geschaffen werden.
Versöhnung hat verschiedene Dimensionen, die tief miteinander verwoben sind. Versöhnung mit sich selbst, den anderen und mit Gott. Es entspricht dem Respekt vor der personalen Würde der Menschen, dass sich Versöhnung nicht fordern, sondern nur - als Angebot einer neuen auf Wahrheit und Gerechtigkeit beruhenden Beziehung - erbitten lässt. Im Christentum wird Versöhnung als gottgewirkte Gnade und somit als ein Vorgriff auf das kommende Reich Gottes betrachtet.
Jörg Lüer,
Referent für den Arbeitsbereich Frieden der Deutschen Kommission Justitia et Pax
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