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Lexikon der Ethik

Menschenwürde

Auf den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und die nationalsozialistische Barbarei reagiert die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 in der Präambel mit der Aussage, dass "die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet" Auch das deutsche Grundgesetz von 1949 stellt gleich im ersten Artikel fest: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

Aus der brutalen Missachtung menschlicher Würde gewann damals das Gespür für sie seine konkrete Orientierung. Heute dagegen wird zunehmend kritisiert, der Würdebegriff sei zu einer moralisierenden Appellformel verkommen, die eine sachgerechte Erörterung insbesondere neuartiger ethischer Probleme, z.B. im Bereich Biopolitik, massiv erschwere. Statt unnötigerweise alle moralischen und rechtlichen Normen auf ein vages "Grundprinzip" zurückzubeziehen, sei es sinnvoller, mit einem enger gefassten Begriff zu arbeiten: "Menschenwürde" als Anspruch jeder zur Selbstachtung fähigen Person, nicht gedemütig zu werden.

Inhalt der Würde

Auch in der römischen Antike, also am Anfang der für unser Verständnis von "Würde" wesentlichen Geschichte, dominiert zunächst eine engere Bedeutung: Sie nimmt den besonderen gesellschaftlichen Rang bzw. die besonderen Verdienste von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in den Blick. Im Anschluss an die Philosophie der Stoa, besonders bei Cicero und Seneca, rückt dann aber bald ein sowohl verallgemeinerter als auch moralisch umgedeuteter Würdebegriff in den Mittelpunkt. Dieser kennzeichnet nun die besondere Stellung des Menschen als eines vernunftbegabten und deshalb für sich verantwortlichen Wesens. Im Glauben der Kirche findet der Gedanke einer allen Menschen gemeinsamen Würde seinen schöpfungstheologisch begründeten Ausdruck im biblischen Wort von der Gottebenbildlichkeit des Menschen (Gen1, 26ff.). Zumindest im westlichen Kulturkreis gewinnen allerdings seit dem italienischen Renaissance-Humanismus "säkularisierte" Auffassungen der Menschenwürde an Bedeutung, in deren Rahmen sowohl der leistungs- als auch der wesensbezogene Bedeutungsstrang weitergesponnen wird: Hauptthema im einen ist das Ziel eines gelungenen Lebens, wie z.B. bei Hegel, Lassalle oder auch Luhmann, im anderen die Fähigkeit, frei über das eigene Leben zu bestimmen, wie vor allem bei Kant. Eine Formel seines moralischen Grundgesetzes, des "kategorischen Imperativs", darf wohl als prägnanteste nicht-religiöse Umschreibung der Idee von einer über allen Preis erhabenen Würde des Menschen gelten: "Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst." (Grundlegung ..., in Akademieausgabe IV: 429).

Recht der Würde

Über viele Jahrhunderte scheint selbst die Vorstellung einer allen Menschen als Menschen bzw. vor Gott gleichen Würde mit weitreichender Ungleichbehandlung vereinbar, bis hin zur Rechtfertigung der Sklaverei oder der Minderstellung der Frau. Erst mit dem neuzeitlich-modernen Verständnis individueller Freiheit setzt sich allmählich die Überzeugung durch, dass es eine Vielzahl menschenwürdiger Lebensformen mittels grundlegender subjektiver Rechte zu schützen gilt. Eine Deutung der Menschenwürde als Sinnbedingung der Menschenrechte bringt dies plausibel zum Ausdruck: sei es als "Suchkategorie für Defizite an Humanität" (Hilpert, LThK 7, 1998: 135) oder das"sinngebende Ziel einer Realisierung der Menschenrechte", sei es als Grenzkategorie oder "sinngebende Voraussetzung eines richtig verstandenen Begriffs der Menschenrechte". (Menke/Pohlmann, Philosophie der Menschenrechte, 2006: 165).

Grund der Würde

Einerseits werden Menschenwürde und Menschenrechte in vielen Gesellschaften wie nie zuvor auch positivrechtlich geschützt. Zugleich verwandelt sich gerade dort die Sicht vieler Menschen auf den Menschen. Und es fragt sich, ob die "Unbedingtheit der Menschenwürde" wirklich eine sich selbst tragende Gewissheit ist, die zu verhindern vermag, dass im Zuge der Verwissenschaftlichung unserer Selbstbeschreibungen die Unterscheidung von Person und Sache eliminiert wird. Bleibt am Ende doch "nur" die Hoffnung auf Gott? Darauf, dass die fragile menschliche Existenz in der Beziehung mit Gott über sich hinauskommt und ihr in dieser Beziehung unbedingt Würde geschenkt wird? Auf dass menschenwürdiges Verhalten auch da wahrscheinlicher werde, wo die Umstände das Gegenteil nahelegen?

Aus der Anerkennung einer unverrechenbaren Würde folgt zwar nicht unmittelbar, welche, aber "dass jeder Mensch grundlegende Rechte hat". Ebenso bleiben ohne diese Voraussetzung auch menschenrechtliche Verträge "bloße Übereinkünfte zum wechselseitigen Vorteil" (Menke/Pohlmann, Philosophie der Menschenrechte, 2006: 165 bzw.154).

Klaus Ebeling, Projektleiter Ethik,
Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr in Strausberg