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Gehorsam

Kaum eine Tugend ist durch Ereignisse der jüngeren Geschichte so in Misskredit geraten wie der Gehorsam. Ganz "normale" Menschen, der staatlichen Autorität oder dem militärischen Vorgesetzten ergeben, führten während der NS-Zeit verbrecherische Anweisungen aus, verübten unvorstellbare Gräueltaten. Mit der gängigen Begründung "Befehl ist Befehl" wurde Verantwortung nach "oben" abgeschoben und die Haftung für eigene Taten bestritten. Ohne eine moralische Überprüfung von Inhalt und Ziel des Befehls aber ist Gehorsam blind. Und: "die Berufung auf blinden Gehorsam kann den nicht entschuldigen, der sie (die Verbrechen) ausführt ... Höchste Anerkennung verdient dagegen die Haltung derer, die sich solchen Befehlen furchtlos und offen widersetzen." (Vaticanum II: Gaudium et Spes 79)

Unbedingter Gehorsam

Der Gehorsam ist in den biblischen Texten und der antiken Philosophie wesentlich gottbezogen. Während sich für Platon und die Stoa der Respekt vor dem Göttlichen in der verbindlichen Ausrichtung menschlicher Vernunft an der Idee des Guten bzw. dem kosmischen Gesetz ausdrückt, zeigt sich für Israel Gehorsam in der antwortenden Tat auf den im Gesetz und Prophetenwort vernommenen Anruf Gottes. Dieses Verständnis wird im Neuen Testament durch Jesu Gehorsam bis zu seinem Tod bestätigt. In der Forderung, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen, begrenzen jüdisch-christliche (Apg 5,29) und griechische (Platon: Apologie 29d) Ethik den Gehorsam gegenüber weltlicher Autorität. Die mittelalterliche Theologie versteht den Gehorsam innerhalb eines vielgestaltigen Ordnungssystems (kosmisch, staatlich, familiär, kirchlich), dem ein abgestuftes Autoritätsverhältnis entspricht. Strikter Gehorsam aber bleibt nur Gott und seinem (Heils-)Willen geschuldet. Im Namen von Autonomie und Freiheit kritisiert die Philosophie der Aufklärung dieses überlieferte Gehorsamsverständnis als Fremdbestimmung. Unbedingter Gehorsam gebührt nach Kant allein dem durch die Vernunft selbst gegebenen moralischen Gesetz.

Militärischer Gehorsam

Gehorsamsbereitschaft gegenüber Recht und Gesetz ist eine gesellschaftlich funktionale Notwendigkeit. Für das Militär gelten Befehl und Gehorsam sogar als elementares Organisationsprinzip. Durch die rechtsstaatliche Einbindung sind dem Befehlsrecht in der Bundeswehr jedoch enge Grenzen gesetzt. Keinen Anspruch auf Gehorsam haben Befehle, wenn sie gegen die Menschenwürde verstoßen oder keinen dienstlichen Zweck beinhalten (§ 11 Abs.1 SG), ihre Befolgung Straftaten beinhaltet (§ 11 Abs.2 SG) oder auch deshalb nicht zumutbar sind, weil ein Untergebener die Ausführung vor seinem Gewissen nicht verantworten kann (BVerwGE v. 21.06.2005).

Ziviler Ungehorsam

Staatsbürgerlicher Ungehorsam kann sich durch strafrechtlich verbotenes Tun oder durch Unterlassen des rechtlich Gebotenen äußern. Dabei zielt die Verweigerung einer gesetzlichen Verpflichtung oder verwaltungsrechtlichen Anordnung auf die Bewahrung der eigenen persönlichen Integrität (z. B. Kriegsdienstverweigerung), der zivile Ungehorsam auf eine Veränderung der Gesetze oder der Regierungspolitik (z. B. Kirchenasyl). Im Unterschied zum traditionellen Widerstandsrecht gegenüber Diktaturen ist er begrifflich an den demokratischen Rechtsstaat gebunden und wird definiert als "öffentliche, gewaltlose, gewissensbestimmte, aber politisch gesetzwidrige Handlung" (Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975: 401). Die nicht legale Aktion darf sich allein gegen gravierendes Unrecht richten, die Rechtswege müssen zuvor ausgeschöpft sein.

Kritischer Gehorsam

Autoritätsverhältnisse verlangen vom Einfordernden Begründungsfähigkeit und Kompetenz, vom Gehorchenden Einsicht und Überprüfungsbereitschaft. Zu kritischem Gehorsam gehört nicht nur moralisches Urteilsvermögen, sondern auch Zivilcourage. Empathiefähigkeit, Verantwortungsbereitschaft und Selbstwertgefühl helfen, aus Gehorsam gegenüber dem eigenen Gewissen ungehorsam zu sein. Christen werden sich am Handeln Jesu ein Beispiel nehmen, der am Sabbat einen Kranken heilte (Mt 12,9-14) - Ungehorsam um des Menschen willen.

Dr. Matthias Gillner
Dozent für Katholische Sozialethik an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg