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"In memoria aeterna erit justus. - In ewigem Gedenken lebt der Gerechte."

Theologische Gedanken zu Sinn und Bedeutung des Totengedächtnisses

"Du bleibst uns unvergessen!" - Wenn Hinterbliebene dieses Versprechen in Todesanzeigen, bei Grabreden oder auf Gedenksteinen geben, äußert sich darin der Wunsch und die Verpflichtung, einen geliebten Menschen nicht zu vergessen, gar ihn bewusst aus dem Gedächtnis zu löschen. Denn erst wer dem Vergessen anheim fällt, ist endgültig tot. An wen sich niemand mehr erinnert, der ist tatsächlich gestorben. Ist in den ersten Wochen nach seinem Tod ein Verstorbener noch in Gesprächen und Erinnerungen gegenwärtig, verblasst aber bald das Gedächtnis, nur noch sporadisch tritt er ins Bewusstsein und schließlich versinkt er ins Dunkel des Vergessens.

Wenn sich das menschliche Gedenken aber als so brüchig erweist, welchen Sinn hat es dann überhaupt, der Verstorbenen zu gedenken? Vermögen Denkmäler, Formen, Orte und Zeiten des Totengedenkens die schmale Erinnerung aufrecht zu erhalten? Auch die Kirche pflegt Formen des Totengedächtnisses. Kaschiert sie damit aber nicht nur fromm die menschlich begrenzte Erinnerung oder weiß sie um einen "Mehrwert" ihres Gedenkens?

Totengedenken und kulturelles Gedächtnis

Die Religionswissenschaftler Aleida und Jan Assmann haben beobachtet, dass es nicht nur jene Erinnerung gibt, die aus der alltäglichen Kommunikation erwächst, sondern dass darüber hinaus jede Gesellschaft noch eine andere Art des gemeinschaftlichen Wissens hat, das für die Identität der Gruppe bedeutsam ist. Beschränkt sich das Gedächtnis der Alltagskommunikation verständlicherweise auf die Zeitspanne eines Menschenlebens - also rund 80 bis 100 Jahre (dies nennt man kommunikatives Gedächtnis) -, dann reicht diese eng begrenzte, subjektive und unsichere Erinnerung nicht aus, will sie für das Selbstverständnis einer Gruppe oder Gesellschaft relevant sein. Dazu braucht es objektivere, feste und vor allem beständige Formen der Erinnerung. Diese nennt man das kulturelle Gedächtnis. Es kennt im großen Atem der Geschichte jene schicksalhaften Ereignisse der Vergangenheit, die trotz ihrer zeitlichen Entfernung die Identität einer Gesellschaft gegenwärtig und zukünftig prägen. Die Erinnerung daran wird dabei kulturell geformt mittels bestimmter Texte, Bilder, Denkmäler, Riten, Feste und Bräuche und institutionell durch Rezitation, Betrachtung und Begehung wachgehalten und weitergegeben. Sie ermöglichen dem Einzelnen "dazuzugehören" und sich als Mitglied der Gesellschaft im Sinne einer Erinnerungs- und Kulturgemeinschaft zu verwirklichen.

Das Gedenken der Toten fügt sich in das kommunikative und kulturelle Gedächtnis ein. Es lässt verstehen, weshalb das Versprechen "Du bleibst uns unvergessen!" von den Zeitgenossen allein gar nicht erfüllt werden kann. Mit dem Sterben der Hinterbliebenen nimmt das Gedächtnis ab, spätestens aber nach drei bis vier Generationen muss auch das Totengedenken als Teil des kommunikativen Gedächtnisses ins Grab sinken und vergehen.

Wo sich hingegen das Totengedenken mit der Geschichte einer Gruppe oder Gesellschaft verbindet und deren Identität mitbestimmt, erlangt es eine größere Dimension.
So stellen Denkmäler, die an bedeutende Persönlichkeiten oder an herausragende Ereignisse erinnern, Formen des kulturellen Gedächtnisses dar. Auch jene Toten gehören zum kulturellen Gedächtnis unseres Volkes, die zu ihm in einer besonderer Beziehung stehen und deren Andenken durch bestimmte Formen (Gedenktag, Gedenkversammlung) im Gedächtnis unseres Volkes fest verankert sind: die Toten der beiden Weltkriege, deren Gedenken der Volkstrauertag gilt, oder auch die Opfer des Nationalsozialismus, deren Gedenktag jeweils am 27. Januar begangen wird. Dieses staatliche Gedenken richtet sich zwar auf die Toten, prägt aber zugleich das Selbstbewusstsein des Staates, hat also identitätsstiftende Funktion.

In diesen Kreis gehören auch die Anlässe und Formen militärischen Totengedenkens, in denen die Bundeswehr Frauen und Männer ehrt, die sich in den Dienst unseres Staatswesens gestellt haben. Ihnen drückt der Staat so seine Dankbarkeit aus, anerkennt den Einsatz und die Lebensleistung eines Menschen und lässt ihm Ehre zuteil werden. Dies zielt aber weniger auf die individuelle Persönlichkeit eines Menschen, vielmehr wird er in seiner Funktion und Aufgabe wahrgenommen, mit der er sich um unser Gemeinwesen verdient gemacht hat.

Ein solches Totengedenken steht aber in der Gefahr, die Toten nicht um ihrer selbst willen wahrzunehmen. Es kann geschehen, dass sie vereinnahmt werden für die staatlichen Interessen, für durchaus ehrenwerte Anliegen wie die moralisch-ethische Bildung oder die Identität eines Staatswesens. So gibt es ja zu denken, dass sich in totalitären Staatsgebilden mit ihrem ganzheitlich-quasireligiösen Anspruch Riten des Totenkults bilden, die mittels der Toten die völkische bzw. nationale Identität stärken sollen. Obgleich sich die Bundesrepublik Deutschland in ihrem Grundgesetz der unantastbaren Würde eines jeden Menschen verpflichtet weiß, bleibt die Frage, welche Instanz diese Würde zuspricht. Muss das Totengedenken deshalb nicht auch auf eine überirdische Dimension hinausweisen?

Gebet und Gottesdienst als Ort kirchlichen Totengedächtnisses

Wenn sich Christen der Toten erinnern, dann findet dies seine originäre Form im Gebet. Wie sie auch sonst alles, was sie bewegt, vor Gott tragen, so auch ihre Toten. Die Erinnerung an sie, an gemeinsam Erlebtes und Erlittenes bleibt damit nicht nur an den zwischenmenschlichen Austausch gebunden, die Erinnerung kann auch Teil der betenden "Kommunikation" mit Gott werden. So sprechen wir zu ihm von den Menschen, die uns wichtig waren und über ihren Tod hinaus wichtig bleiben.

Dieses betende Gedenken kann Ausdruck des Dankes an Gott sein; Dank für das Geschenk dieses Lebens, Dank für das, was wir durch den Verstorbenen an Fürsorge und Liebe erfahren haben. So ist diese dankbare Erinnerung an die Toten zugleich eine dankbare Erinnerung an Gottes Geschichte mit diesem Menschen und mit uns.

Zudem erscheint das betende Totengedenken in der katholischen Tradition auch als ein Beten für die Verstorbenen, um sie der Barmherzigkeit Gottes zu empfehlen. Was immer sie im Leben gefehlt und gesündigt haben, möge ihnen durch Gottes Gnade nicht zum Gericht werden. Dieses fürbittende Gebet lässt die Lebenden solidarisch neben die Toten treten. Weil wir uns mit ihnen verbunden wissen, soll auch ihnen die Güte Gottes zuteil werden.

Dieses betende Totengedenken findet seinen zentralen Ort im Gottesdienst. Denn hier ist das persönliche wie kollektive Erinnern an die Toten zutiefst verknüpft mit dem erlösenden Wirken Gottes in Tod und Auferstehung Jesu Christi, wie es vor allem in der Messfeier gegenwärtig wird. So ist das christliche Gedächtnis der Toten getragen vom umfassenden, vergegenwärtigenden Gedächtnis der Erlösung aus Sünde und Tod. Deshalb muss das Totengedenken auch nicht vor den Grenzen der Schuld, des Todes und der menschlichen Vergänglichkeit kapitulieren. Denn in der Liturgie werden nicht nur die vergangenen Heilstaten Gottes vergegenwärtigt, auch die in ihnen liegende Verheißung der ewigen Vollendung ragt schon in die Feier des Gottesdienstes hinein. Wo in diesem Glauben der Verstorbenen gedacht wird, eröffnen sich Perspektiven, die das menschliche Empfinden, mit den Toten über die Erinnerung verbunden zu bleiben, nicht obsolet macht, sondern es ausweitet in das Gedenken Gottes hinein. Wer an Gottes Heil und Treue glaubt, darf für sich wie für die Verstorbenen eine Zukunft erhoffen, die von größeren Möglichkeiten - denjenigen Gottes - lebt, als sie Menschen je zur Verfügung stehen.

Darin unterscheidet sich das christliche Totengedenken in Gebet und Gottesdienst vom säkularen Totenkult. Räumt doch die Liturgie den Toten einen Platz ein - nicht nur für eine begrenzte Zeit menschlichen Erinnerns. Indem sie sie dem Gedächtnis Gottes empfiehlt, vor ihm ihre Namen ausspricht, "erinnert" sie Gott gleichsam an alle, deren Namen "im Buch des Lebens" verzeichnet sind (vgl. Phil 4,3; Offb 3,5). So ist es letztlich Gott selbst, der die Toten dem Vergessen entreißt. Denn wessen sich Gott erinnert, der lebt vor ihm.

Das liturgische Totengedächtnis schaut nicht nur auf das konkrete Leben mit seinen Höhen und Tiefen zurück, es bekennt zugleich die Verheißung, dass in Gottes Gegenwart Erlösung und Heilung der geschlagenen Wunden, der verpassten Chancen, des erlittenen Unrechts, der verwirkten Geschichte geschehen. Darin liegt die je größere Zukunft Gottes, an der die Toten teilhaben. Darum kann die Totenliturgie vertrauensvoll künden: "In memoria aeterna erit justus. - In ewigem Gedenken lebt der Gerechte." (Ps 112,6).

Totengedächtnis als Dienst der Kirche an Toten und Lebenden

Für die Toten einzutreten, ihr Gedenken in das ewige Gedenken Gottes zu stellen, hat die Kirche immer verstanden als ihren Dienst an den Verstorbenen. Weil Gott den Toten eine Zukunft öffnet, wendet die Kirche ihnen alle Aufmerksamkeit zu, dürfen sie um ihrer selbst willen im Zentrum stehen. So erinnert das kirchliche Totengedächtnis daran, dass den Verstorbenen eine auch im Tod nicht endende Würde zukommt, die ihnen von Gott her bleibend geschenkt ist. Um dieser Würde willen darf die Erinnerung an sie weder vornehmlich als Anlass verstanden werden, um auf die Lebenden einzuwirken, noch dürfen die Toten selbst vereinnahmt und instrumentalisiert werden für Anliegen und Ziele der Nachgeborenen. Gerade weil sich die Kirche in Gebet und Gottesdienst nicht auf moralisch-ethische Appelle beschränken muss, sondern auf den baut, dessen Macht stärker ist als alle Mächte dieser Welt, kann sie sich den Toten uneingeschränkt zuwenden. Dieser Glaube ist der Grund, weshalb die Kirche sogar all jene in ihr Gedenken aufnimmt, die heute namenlos dem menschlichen Erinnern längst entschwunden sind. Noch angesichts des Dunkels der Geschichte hält das Totengedächtnis an der unverlierbaren Würde aller Menschen vor dem Schöpfer fest, der ihrem Leben Sinn und Erlösung gewährt.
Aber auch wenn es vorrangig um die Toten geht, kann das Totengedächtnis auch ein Dienst der Kirche an den Lebenden sein. Denn im betenden Gedenken begleitet die kirchliche Gemeinschaft die Trauernden und Hinterbliebenen, lässt sie nicht allein und gibt auch denen eine Stimme des Gebets, die angesichts von Schmerz und Verlust selbst nicht beten können oder wollen. Dafür kennt das gottesdienstliche Totengedächtnis Termine und Formen (Totenwache, Sechswochenamt, Jahrgedächtnis, Allerheiligen / Allerseelen u. a.), die einen gelingenden Trauerprozess und eine angemessene Toten-erinnerung unterstützen können.

Schließlich ist das Totengedächtnis noch in einem weiteren Sinn ein Dienst der Kirche an den Lebenden. Gerade weil uns heute der Tod trotz aller medialen Vermittlung seltsam fern ist und wir vielfach in einer Verdrängung der eigenen Vergänglichkeit und des eigenen Sterbens leben, bildet das Totengedenken auch einen Anlass, sich der eigenen Vergänglichkeit bewusst zu werden (und zu bleiben) und sich mit dem Gedanken an das eigene Sterben konfrontieren zu lassen. Hier lebt etwas fort von der weisen Mahnung "Gedenke des Todes!" So kann das Totengedächtnis zu einer vertieften Lebensgestaltung beitragen, um zu einem wachen, aber auch gelassenen und vertrauensvollen, weil gläubigen Lebensbewusstsein zu finden.

Das Totengedächtnis der Kirche in Gebet und Gottesdienst nimmt in seinen Formen und Gestalten durchaus teil am kulturellen Gedächtnis unserer Nation, aber es übersteigt dessen Bedeutung, weil es im Glauben an die Auferstehung die Toten in das Gedenken Gottes empfiehlt, die Trauernden tröstend begleitet und die Lebenden zum ehrlichen Blick auf das wahre Ziel des Leben anhält.

Prof. Dr. Jürgen Bärsch,
Professur für Liturgiewissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt

Weiterführende Literaturhinweise:

Tote begraben und Trauernde trösten. Bestattungskultur im Wandel aus katholischer Sicht, 20. Juni 2005 (Die deutschen Bischöfe 81), Bonn 2005.

Jürgen Bärsch, Gedächtnis der Verstorbenen - Begleitung der Trauernden, in: Auferstehung der Toten, hg. von Hans Kessler, Darmstadt 2004, 340-359.

Winfried Haunerland, Totengedächtnis als Gebetsgedenken, in: Bestattungskultur - Zukunft ge-stalten, hg. von Kerstin Gernig, Düsseldorf 2004, 117-123.

Jürgen Bärsch, Das Gedächtnis der Verstorbenen - Dienst der Kirche an Toten und Hinterbliebenen, in: Trauer und Hoffnung feiern, hg. von Konrad Baumgartner, Stuttgart 2005, 33-53.

Jürgen Bärsch, Der Toten gedenken, in: Liturgie und Bestattungskultur, hg. von Ansgar Franz u. a., Trier 2006, 141-158.